Licht für Kinder im Schatten des Himalaya

Freitag, 10. Mai 2024

Santosh gehörte zu den Strassenkindern von Pokhara. «Wir träumten davon, eines Tages Anführer einer richtig grossen Gang zu werden und es der Polizei heimzuzahlen. Ich ging regelmässig in eine Strassenküche, wo wir eine warme Mahlzeit erhielten. Einmal hörte ich das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Diese Geschichte hat etwas tief in mir berührt. Ich wollte auch so geliebt werden. So begann ich viele Fragen zu stellen nach diesem Jesus, von dem sie sagten, dass er mich liebt.»

Santosh schnüffelte Leim; er hatte im Dunkeln schreckliche Angst und konnte sie mit Schnüffeln vergessen. Als eine Notunterkunft öffnete, hörte Santosh mit der Slumdroge auf. Er lernte lesen und schreiben, schaffte den Schulabschluss und wurde einer der Helfer. «Ich will dazu beitragen, das Leben anderer Strassenjungen zu verändern, so dass sie wegkommen von den Drogen und ein glücklicheres und gesünderes Leben führen können.»

Strassenkinder-Gangs – bis zum Lockdown
Himalayan Life ist eine christliche Organisation, die Nepali-Kindern zu einem erfüllten Leben verhilft, durch Liebe, Bildung und Fürsorge. Unzählige leiden unter der Trunksucht ihrer Väter und häuslicher Gewalt. Über die Jahre flüchteten Tausende auf die Strassen der Städte. In Pokhara, der zweitgrössten Stadt des Landes, öffneten Christen 2008 eine Strassenküche für die unterernährten, zerlumpten und aggressiven Buben, später eine Notunterkunft. Die Helfer betreuten über die Jahre insgesamt 200 Kinder, doch die Gangs lösten sich nicht auf. Dies geschah erst im harten Lockdown – die Strassen Pokharas waren während 18 Monaten wie ausgestorben.

Heute gibt es laut dem Leiter von Himalayan Life Dani Bürgi im Land kaum mehr Strassenkinder. Doch die seelisch verwundeten Mädchen und Knaben brauchen weiterhin Betreuung und Schulung.

Dies geschieht aktuell in vier Regionen Nepals. Wie geholfen wird, hängt von den lokalen Bedürfnissen ab; mit diesen wandeln sich die Projekte fortlaufend. In Pokhara leben nun achzig Kinder im Street-to-School-Home. Die Leiter sehen eine atemberaubende Verwandlung: geordneter Alltag mit Schule statt Bandenleben auf der Strasse mit Drogen und Gewalt. Das «Indreni»-Jugendzentrum bietet auch für Kids aus der Umgebung gesunde Freizeitaktivitäten an, namentlich Unihockey. Dani Bürgi betont, wie wichtig Sport für den Prozess des Heilwerdens ist: «Als Mannschaft lernen die Kids den Unterschied zwischen einem Team und der Gang.»

Arbeitsplätze im Recycling
Um ihnen eine berufliche Perspektive zu bieten, wagte Bürgi den Aufbau einer PET-Recycling-Fabrik. Nach einem bürokratischen Hürdenlauf nahm der Betrieb 2013 die ersten – auch von Strassenkindern gesammelten – PET-Flaschen an. Über 200 Millionen Flaschen sind seither zu Granulat verarbeitet worden. Der Betrieb stand die Pandemie durch und erzielte auch 2022 einen kleinen Gewinn, trotz chinesischem Preisdumping für neues Material. Sechzig Personen haben Arbeit. 46 Jugendliche schlossen an der internen Lehrwerkstatt eine handwerkliche Ausbildung ab, unter ihnen Sandeep.

Zurück ins Dorf – um zu helfen
Das Bergdorf Ulleri im Annapurna-Gebiet bekam ein Schülerheim, in dem vernachlässigte Kinder Liebe und Förderung erfahren. In ihm leben heute 24 Kids. Pratikshya hatte mit drei Geschwistern unter elenden Verhältnissen gelitten. Im Heim lebte sie auf. Als erste Abgängerin lernte sie Pflegefachfrau – und kehrte nach Ulleri zurück, für auf den Gesundheitsposten! Pratikshya: «Ich will meinem Dorf etwas zurückgeben und Versöhnung leben.»

Eine Schule – trotz Erdbeben und Sturmflut
Die Völker Nepals haben immer wieder unter extremen Naturereignissen gelitten. Das entlegene Yangri-Tal zwischen Kathmandu und dem Mount Everest wurde vom Erdbeben am 9. April 2015 schwer getroffen. Tausende Bewohner, stolze Sherpas, verloren ihr Obdach. Himalayan Life reagierte rasch mit Nothilfe – und ging dann nicht weg, sondern baute eine Schule fürs Tal.

2016 wurde dem «Yangri Academy Center» (YAC) die Lizenz erteilt, in diesem Jahr kommt die zehnte Klasse dazu. Die ökologischen Holzbauten mit hohen, hellen Zimmern, Lehrer/-innen mit Herz, ein fortschrittlicher Lehrplan und sorgfältige Leitung haben die Schule zur anerkanntermassen besten der Provinz gemacht. 280 Kinder folgen aktuell dem Unterricht; 222 von ihnen leben im Internat.

Am 15. Juni 2021 donnerte eine gewaltige Sturzflut das enge Tal hinunter und riss fünf Schulgebäude weg. Der Leiter Sonam Sherpa erkannte die Gefahr rechtzeitig und evakuierte die Kinder. Nun wird die YAC-Anlage auf einem nahen Bergrücken neu gebaut. Die meisten der siebzig Bauarbeiter sind Eltern von Schülern. Dani Bürgi: «Je länger wir in Yangri arbeiten, desto mehr sehen wir die tiefe Zerbrochenheit in den Familien und das innere Leiden der Menschen.»

Rettung vor dem Slum-Elend
Das Himalaya-Bergland läuft gegen Südwesten im hügeligen Terai aus. In der Provinz Chitwan geht ein Team seit 2012 Kindern nach und sammelt sie zu sinnvollen Freizeitaktivitäten. Die zweite Pandemie-Welle aus Indien traf Nepal 2021 mit voller Wucht; fast jede Familie hatte Opfer zu beklagen. Die Helfer verteilten Lebensmittel; dies öffnete ihnen Türen. 2022 konnte im entlegenen Thankaltar in einem ungenutzten Haus ein Heim eingerichtet werden, um Kinder vor dem Slum-Elend und vor Menschenhändlern zu bewahren. 

«Der Slum ist gnadenlos», sagt Dani Bürgi. Laut dem Nepalkenner steht ein gutes Aufwachsen der Kinder auf drei Säulen: Familie, Schule und Gemeinschaft. Die Organisation zielt in ihren Projekten nicht nur auf Bildung, sondern auch auf Sozialkompetenz. 77 Kinder können in Thankaltar zur Schule gehen, werden ernährt und betreut. In der Region profitierten 2023 weitere 1 500 Kinder von Unihockey, Aufgabenhilfe, Jungle Biking und anderen Aktivitäten des Teams.

Aus der eisigen Kälte ins Heim
Zu den vier Regionen in Nepal kommt eine im hohen Norden Indiens. Im April 2009 wurde in Leh, dem Hauptort des Berglands Ladakh auf 3’500 m ü. M., ein Schülerheim eingerichtet, um Kindern von Nepali-Migranten eine Chance zu geben. Sie hausen sonst in Zelten und sind eisigen Winden ausgeliefert, während ihre teils in Schuldsklaverei gefangenen Eltern Strassen bauen. Dani Bürgi: «Ohne Schulbildung sehen ihre Zukunftsaussichten düster aus: Hilfsarbeit mit Löhnen, die 
kaum zum Überleben reichen.»

Von der Nepal-Mission zu Himalayan Life
Himalayan Life ist aus der Schweizer Nepal-Mission entstanden, die ab 1951 Missionare ins zuvor verschlossene Himalaya-Land sandte. Der Zürcher Ingenieur Dani Bürgi und seine Frau Karin, eine Lehrerin, arbeiteten seit 1995 in Nepal. Um Nepali-Kindern ganzheitlich zu helfen, entstanden seither die oben genannten, von einheimischen Christen geleiteten Arbeitszweige. Dani und Karin Bürgi zogen für theologische Studien nach Vancouver. Mit dem Ziel, die Arbeit breiter abzustützen, gründeten sie 2012 Himalayan Life, mit Zweigen in der Schweiz, Kanada, Nepal und Indien. Der Schweizer Zweig ist als gemeinnützig anerkannt.

Anhaltendes Ringen um Freiheit

Nepal war bis 1951 ein Hindu-Königreich ohne Glaubensfreiheit, Ausländern verschlossen. Das Land öffnete sich dann langsam. 1990 wurde die Macht des Königshauses begrenzt, doch die so errungene «Demokratie» mit kurzlebigen, korrupten Regierungen enttäuschte die Nepali. 1996 bis 2006 zerriss ein von maoistischen Rebellen angezettelter Bürgerkrieg das Land von der dreieinhalbfachen Fläche der Schweiz, in dem gegen 30 Millionen Menschen leben.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wuchsen die christlichen Gemeinden anhaltend. In Dörfern und Städten geschahen viele Zeichen und Wunder. Während Jahren wurden Pastoren und Evangelisten weniger behelligt. Seit 2018 sind in Nepal erneut Gesetze in Kraft, welche  das Christwerden unter Strafe stellen. Die politische Elite, mit Hindu-Priestern verbandelt, steht unter dem Einfluss des übermächtigen Nachbarn Indien. In den Bergtälern des Himalaya leben Stämme, die vom tibetanischen Buddhismus geprägt sind.
 

Von der Strasse ins Restaurant

«Ich bin Sandeep Shresta. Ich komme aus einem kleinen Dorf. Im siebten Schuljahr bin ich abgehauen, weil ich es zu Hause nicht mehr ertrug. Mein Grossvater hatte einen Hass auf mich und meine Schwester. Jeden Tag schrie er uns an und schlug uns.
Als ich auf der Strasse landete, hatte ich keine Ahnung, wohin ich gehen sollte, und bekam bald Hunger. Irgendwann schlief ich hinter einer öffentlichen Toilette ein. Dieser Platz wurde mein Versteck. Eines Tages sah ich meine Mutter vorbeigehen. Sie suchte weinend nach mir. Ich kam nicht aus dem Versteck. Ich weinte bitterlich, denn ich wusste, ich konnte nicht zurück.
Das Leben auf der Strasse war sehr hart – ein unglaublicher Kampf. Niemand wollte uns etwas geben. Es war gnadenlos. Zuzusehen, wie die Leute in Restaurants köstliche Speisen essen, war eine Qual. Ich hatte Hunger, aber niemand gab uns zu essen. Ich gehörte zu einer Gang. Wir stellten viel Dummes an. Sie brachten mir bei, wie man Klebstoff schnüffelt. Das vertreibt das Hungergefühl. So lebte ich etwa drei Jahre lang. Mehrmals wurde ich verhaftet und oft verprügelt. Ich suchte nach einem Ausweg. Zu jener Zeit hörte ich von Himalayan Life. Das Team war freundlich zu uns und dies 
motivierte mich, immer wieder hinzugehen.
Als ich auf der Strasse lebte, dachte ich, dass es nur Hass und keine Liebe für mich gibt. Aber bei Himalayan Life wurde ich geliebt. Ich erlebte Freude – eine völlig andere Welt. Also bin ich geblieben. Liebevoll brachte man mir den Unterschied zwischen guten und schlechten Gewohnheiten bei.
In der Lehrlingswerkstatt von Himalayan Life lernte ich schweissen und Metall bearbeiten, auch schreinern. Und erhielt Grundkenntnisse als Elektriker und Klempner. Dann bekam ich die Chance, einen Kurs in Hotelmanagement zu belegen, der mich sehr begeisterte. Ich schloss als 
Klassenbester ab. So bekam ich eine Stelle im besten Restaurant der Stadt. Ohne Himalayan Life wäre ich heute nicht hier. Vielleicht wäre ich nicht einmal mehr am Leben.» 

Bericht: Peter Schmid | Bilder: zVg, Himalayan Life und Peter Schmid | Website mit Video von Ladakh: www.himalayanlife.net