wort+wärch: Wie ist aus Markus Zollinger Pastore Marco geworden?
Markus Zollinger: Ich wuchs in der Region Zürich auf und durchlief eine Banklehre. Nach dem Abschluss des Studiums auf St. Chrischona 1983 – im gleichen Jahr feierten Monique und ich Hochzeit – wollten wir in Graubünden eine Gemeinde aufbauen, im Rahmen der Vision der FEG-Inlandmission; ich war in einer FEG aufgewachsen. So brachte uns eine Anfrage des Luganeser Chrischona-Pastors Peter Wagen durcheinander. Wir sprachen nicht Italienisch! Wir zogen uns zurück und machten einen Fasten- und Gebetstag. Monique erhielt da ein klares Wort (Jesaja 43,18f). Darauf hatten wir beide ein freudiges Ja für den Südtessin.
Waren die Anfänge harzig?
Ja. Wir sollten Deutschschweizer, die im Südzipfel bei Post, Bahn und Banken arbeiteten, über evangelistische Aktivitäten erreichen und ihnen einen Gottesdienst anbieten. Was wir gelernt hatten, probierten wir aus; es funktionierte nicht. Kurse, Filmabende, Vortragsserien – niemand kam. Wir merkten, wir müssen eine Stufe tiefer ansetzen und Beziehungen mit Menschen aufbauen und ihr Vertrauen gewinnen, sie so «gluschtig und gwundrig machen» auf den Glauben, der unser Leben prägt. Das gelang – aber es war eine Arbeit an Einzelnen.
So seid ihr in Kontakt mit Tessinern gekommen.
Zuerst mit Deutschsprachigen. Auf der Eisbahn mit einem Eisenbahner. Seine Familie war die erste, die zum Gottesdienst kam und auch zum Glauben fand. Mehrere Deutschschweizerinnen, die Tessiner geheiratet hatten, stiessen zu uns. So schafften wir Headsets an und übersetzten simultan. In Florenz und Rom verbesserten wir unser Italienisch. Darauf wagten wir einen Bibelgesprächskreis auf Italienisch.
Nebst der Freundschaftsevangelisation erkannten wir die Wichtigkeit von Taten der Liebe an Menschen, die Not leiden. Wir begannen im Kleinen. Dann wandten wir uns an die Sozialbehörde und erfuhren, dass Krippenplätze mangelten. Daher eröffneten wir eine Kinderkrippe, vom Kanton und der Stadt subventioniert. Wenn man nach unserer Motivation fragte, redeten wir von Gottes Liebe zu jedem Menschen und im Speziellen zu den Bedürftigen. Monique lud Frauen und Mütter zu Frauenfrühstücken ein und gab Handarbeitskurse. Ich veranstaltete Männerapéros mit Lebens-
berichten von interessanten Persönlichkeiten. Die so erreichten Gäste hatten weniger Schwellenangst, einen Gottesdienst zu besuchen.
Wie kam diese mit Hilfstätigkeit verknüpfte Mission in der Öffentlichkeit an?
Wir erhielten gute Echos von Behörden: Wir seien Leute, die nicht bloss fromm redeten, sondern die Ärmel hochkrempelten, um Nöten abzuhelfen. Dadurch geschah eine grosse Öffnung, bis hin zu kantonalen Amtsstellen. Wir spürten Goodwill und konnten daher offener über den Glauben reden und zu unseren Veranstaltungen einladen.
Die sozialdiakonischen Arbeiten betteten wir dann auf Rat des Stadtpräsidenten, eines Notars, in einen steuerbefreiten Verein ein. «Mano Aperta» («Offene Hand») kam sehr gut an und wurde unser Aushängeschild. Man fragte uns: «Seid ihr die von ‹Mano aperta›, die den Müttern und diesen und jenen helfen?» Wir konnten erklären, dass der Verein ein Zweig unserer evangelischen Gemeinde war. Die Wertschätzung von Seiten der katholischen Kirche – nach anfänglicher Ablehnung – zeigte sich bei unserem Jubiläum auch darin, dass Bischof Alain de Raemy von Lugano vorbeikam, um unsere Gemeinde kennenzulernen.
Du hast Ende 2022 die Leitung der Gemeinde an Simone Villa übergeben und bist noch zu zwanzig Prozent für sie tätig. Worauf konzentrieren sich Markus und Monique Zollinger nun?
Als Teilpensionierte möchten wir Netze einziehen, die wir über Jahrzehnte ausgeworfen haben. In der Vergangenheit haben sich viele Kontakte zu Menschen ergeben, die nicht einfach in die Gemeinde kamen oder nur bei speziellen Anlässen erschienen. Als Vollzeit-Pastor und Leiter des Vereins «Mano Aperta» hatte ich nicht viel Zeit, solche Beziehungen zu pflegen. Dies soll sich nun ändern. Die Menschen lassen sich gerne von uns einladen und laden uns ihrerseits ein. An Weihnachten machten wir kleine Geschenke, gaben auch einen christlichen Kalender ab. Wir können nachfragen, was sie von seinen Besinnungen halten, und vom Thema des 40-Jahr-Jubiläums «Es gibt mehr» auf den Glauben kommen.
Ihr seid offen für Frauen und Männer aus anderen Kulturen. Wie kam es dazu und was für Hürden hattet ihr zu überwinden?
Es gab mehrere Wellen von Asylsuchenden – aus Sri Lanka, aus Afrika, von Syrien, nun von Afghanistan. Menschen kommen über die Grenze und stranden hier, können nicht weiter, bis ihre Gesuche bearbeitet sind. Oder sie können vorläufig bleiben. Wir sagten: Wir beten für Länder, in denen das Evangelium nicht frei verkündigt werden kann. Nun kommen Menschen aus eben diesen Ländern zu uns! Das ist unsere Chance!
Wir fragten die Ämter, was eben benötigt wurde. Lebensmittel? Ein Team brachte Syrern in Como Suppe; Monique und ich sammelten Kleider und brachten sie über die Grenze. Später halfen wir Bewohnern des Flüchtlingszentrums beim Ausfüllen von Mietverträgen oder hüteten Kleinkinder, wenn die Mütter zu Vorstellungsgesprächen fuhren. Dies sprach sich herum. Unversehens hatten wir eine Gruppe von zehn Afrikanern, die dann auch in den Sonntagsgottesdienst kamen. Sie beanspruchten nicht nur Geld und Hilfe, sondern antworteten auf die Liebe und Wertschätzung, die sie spürten. Während des Bürgerkriegs in Syrien und nun, nach dem Sieg der Taliban in Afghanistan, haben wir unsere Angebote angepasst.
Habt ihr auch schon diakonische Arbeiten, die gut liefen, gestoppt?
Ja – um aktuelle Herausforderungen anzugehen. In Mendrisio führten wir während über zwanzig Jahren eine Kinderkrippe – eine der ersten in der Region – und boten danach ausserschulische Betreuung an. In Chiasso führten wir über viele Jahre einen Schülermittagstisch für über fünfzig Schüler. Zunehmend gab es andere gute Anbieter; so hörten wir mit diesen Kindersozialarbeiten auf bzw. übergaben sie an andere, um dort anzupacken, wo aktuell Not am Mann ist.
Zum Beispiel gab es im Mendrisiotto noch keine Lebensmittelhilfe für bedürftige Familien («Tischlein deck dich»). So boten wir unsere Gemeinderäume und unsere Mitarbeit an. Die Verteilung brachte uns in Kontakt mit hunderten Familien und Einzelpersonen.
Unter ihnen waren Flüchtlinge, namentlich Syrer, Iraner und Afghanen. Sie luden wir in der Folge zu einer Grigliata ein, um ihnen etwas Gutes zu tun. So kamen wir in näheren Kontakt und konnten ihnen als Gemeinde dienen. Ein iranisches Ehepaar kam so zum Glauben. Wir begannen uns für ihr Bleiberecht einzusetzen, da sie des Glaubens wegen in der Heimat verfolgt würden.
Ihr habt im Newsletter darüber berichtet: Das wurde ein langer Kampf.
Ja, er dauerte sieben Jahre. Wir schöpften alle gesetzlichen Möglichkeiten aus, um für Bijan und Azam Radmard Asyl zu erwirken. Zuständig war das Staatssekretariat für Migration (SEM) in Bern. Dieses und das Bundesverwaltungsgericht wiesen mehrere Gesuche ab, mit der Behauptung, Christen könnten gut im Iran leben, wenn sie den Glauben nicht öffentlich machten und sich nicht mit anderen Christen träfen. Wir widerlegten dies: Sobald der christliche Glaube von Persern ruchbar wird, droht ihnen Haft, auch Folter.
Wir wehrten uns gegen die Ausschaffung. Doch das Datum stand bereits fest. Da schrieben wir den SEM-Vorsteher Mario Gattiker an und die Justizministerin Karin Keller-Sutter. Freunde aus dem ganzen Land unterstützten unser Gesuch. Endlich kontaktierte mich Herr Gattiker. Ihre Mailboxes seien überfüllt, sagte er; die Bundesrätin habe ihn gebeten, dies zu stoppen. Ich sagte ihm, wir würden gleich aufhören – sobald Radmards die Aufenthaltsgenehmigung erhielten.
Da gab er mir zwischen den Zeilen zerknirscht zu verstehen: Sollten wir im Tessin ein Härtefallgesuch einreichen, das der Kanton bejahe, könnte es möglich werden. Wir reagierten sofort und reichten das Gesuch ein. Der Kanton lehnte es aber ab. Ich verlangte ein Gespräch mit Staatsratspräsident Norman Gobbi. Auf Druck verschiedener uns wohlgesinnter Politiker, denen wir den Fall Radmard dargelegt hatten, gab der Lega-Mann nach und lud uns ein.
Im Regierungsgebäude trafen wir ihn und die SEM-Verantwortliche fürs Tessin. Für sie war der Fall klar: Wenn Bern nein sagt, ist der Fall erledigt. Ich widersprach: Der Kanton könne unser Härtefallgesuch unterstützen. Denn das Ehepaar erfülle alle Kriterien. Sie mussten unsere Kompetenz anerkennen und setzten sich an den Tisch. Ich konnte auf ein früheres Treffen mit Staatsratspräsident Martinelli im selben Gebäude verweisen. Er hatte uns vor dreissig Jahren unterstützt, in Mendrisio eine Kinderkrippe zu eröffnen. Ich legte Herrn Gobbi dar, was wir mit dem Verein «Mano Aperta» für den Kanton und seine Bevölkerung seither getan hatten. Und sagte, jetzt sei für sie der Moment gekommen, etwas für uns zu tun…
Nach fünf Tagen kam der Bescheid, der Kanton anerkenne das Ehepaar als Härtefall und werde dies Bern mitteilen. Wenig später erteilte das SEM in Bern die Aufenthaltsgenehmigung. Wir hatten zuvor den Mut beinahe verloren. Es lohnt sich, bis zum Schluss zu kämpfen. Der Anwalt, den wir genommen hatten, war so beeindruckt von unserem Kampfeswillen und Glauben, dass er seine Rechnungen ermässigte und sich schliesslich erfreut zeigte, dass er hier habe mithelfen können. Natürlich lud ich ihn zu unserem Jubiläum ein. Er war gern dabei und lernte uns auch als Kirche kennen. Kürzlich wurde er in den Grossen Rat gewählt. So haben wir einen guten Fürsprecher mehr.
Nun setzt ihr euch für Afghanen ein.
Hunderte von ihnen sind seit der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 in Chiasso eingereist. Sie wurden im Flüchtlingszentrum in Balerna, wo wir wohnen, untergebracht. 2023 waren über 200 Minderjährige da. Wir sahen sie herumlungern, hoffnungs- und ziellos. Monique und ich sagten zueinander: Nun gilt es, hier die Hand zu öffnen.
Wir überlegten, wie wir jedem Einzelnen Liebe und Wertschätzung ausdrücken könnten, und orientierten uns bei der zuständigen Stelle des SEM. Man erlaubte uns eine Aktion. Wir schrieben allen in ihrer Sprache (Paschtun, Dari oder Farsi), dass es uns als Eltern bewegt und schmerzt, dass sie ihre Eltern verlassen mussten. Jeder erhielt ein Säckchen mit Erdnüsschen und Schokolade – und den Hinweis auf den Jesus-Film, den sie auf dem Handy in ihrer Sprache ansehen können.
Dann trafen wir die Betreuer, um zu beraten, wie wir mit «Mano Aperto» helfen könnten. In der Folge brachten sie regelmässig Grüppchen von Minderjährigen nach Mendrisio in unser Gemeindezentrum. Da wurden sie von Volontären zu kreativen Arbeiten angeleitet oder konnten im Gemeindepark arbeiten. Sie jäteten, strichen eine Baracke und erneuerten unseren Spielpark. Auch für 2024 sind solche Projekte geplant. Man sagt uns, dass sinnvolle Arbeit den afghanischen Burschen sehr hilft, wenn sie monatelang warten müssen. Es ist gewaltig, die Freude in ihren Gesichtern zu sehen, wenn sie Arbeiten machen können und danach sehen, was sie geleistet haben.
Das SEM im Tessin gab in der Folge dem Zentrum in Balerna die schriftliche Bewilligung, mit «Mano Aperta» zusammenzuarbeiten. Man hat in Bellinzona erneut zur Kenntnis genommen, was wir leisten. Mit zwei Verantwortlichen des Zentrums haben wir uns angefreundet. Sie kamen an unser Jubiläum. Ihre Arbeit wollen sie sich ohne uns gar nicht mehr vorstellen.
Menschen aus einem Dutzend Ländern sind bei euch im Gottesdienst. Die Chrischona-Gemeinde, die sich nun «Chiesa viva» nennt, habt ihr seit langem interkulturell gestaltet. Wie ist das gelungen?
Zum einen durch unser persönliches Beispiel. Meine Frau und ich gehen auf Fremde zu, kümmern uns um sie, vor und nach dem Gottesdienst, machen keinen Unterschied. Die Gemeinde hat das schon in der Frühzeit gesehen, als wir uns Drogensüchtigen annahmen, die dann auch im Gottesdienst auftauchten. Da sassen Junkies, die von Alkohol stanken, die beim ersten Lied einschliefen – und unsere Leute hatten sich neben sie zu setzen. Schliesslich hatte sie der Pastor mitgebracht.
Die Gemeindeglieder hörten aber auch das Zeugnis des ersten Drogensüchtigen, der sich bekehrte. Barfuss trat er vor die Gemeinde und sagte: «Als ich herkam und noch nichts vom Glauben wissen wollte, wurde ich von euch aufgenommen wie in einer Familie. Niemand rümpfte die Nase, stiess mich an, als ich einschlief. Das war für mich der Auslöser, den Weg zu Christus zu finden.» Indem sie immer wieder durch uns mit Menschen aus Randgruppen konfrontiert wurden, ist auch bei ihnen etwas in Gang gekommen. Heute haben sie Verständnis für die Flüchtlinge, die wir hineinbringen. Wir mussten vorangehen. Nun helfen sie mit.
Interview: Peter Schmid