Hannah Stengel ist 34 Jahre alt und Theologin. Aufgewachsen ist sie an der Küste des Zürichsees. Ihr Ehemann Ever ist 37, ebenfalls Theologe, ist aufgewachsen auf einer Kaffeefarm in der karibischen Küstenregion Kolumbiens. Die beiden sind Eltern von Gioia Grace und Miguel David. Im Interview sprach Andreas Schmid mit Hannah.
wort+wärch: Hannah, du und Ever habt einen starken Bezug zu Kolumbien. Kannst du erklären, was euch mit diesem Land verbindet?
Hannah: Mein Mann Ever ist in Kolumbien aufgewachsen, ich habe fünf Jahre in der Bibelschularbeit vor Ort mitgeholfen. Gerade bauen wir mit unserem ehemaligen Bibelschulleiter Kinderprojekte in den lokalen Gemeinden auf und bringen uns, wo möglich, auch sonst in die Bibelschularbeit ein. Zudem lebt Evers ganze Familie weiterhin in Kolumbien.
Im Moment seid ihr in Worb zuhause, wo du bis ende 2024 als Pfarrerin EGW angestellt warst. Wie seid ihr mit den Menschen und der Arbeit in Kolumbien in Kontakt?
Im Alltag vor allem per WhatsApp – schriftlich, per Audio und Fotos, manchmal Videos. Dazu kommen ab und zu zwei- bis dreistündige Videositzungen und, wenn‘s unsere Situation zulässt, Evers dreiwöchige Besuchsreisen vor Ort. Tatsächlich fühlt es sich ein bisschen so an, als würden wir in zwei komplett verschiedenen Welten gleichzeitig leben. Das ist ein grosses Privileg, aber auch eine Last.
Was ist eure Motivation, euch auch in Zukunft in Kolumbien einzusetzen?
Berufung. Von uns aus hätten wir schon oft aufgegeben, aber Jesus hat uns immer wieder gerufen, Kraft geschenkt und unerwartet Türen geöffnet. Es begeistert uns, dass wir den kolumbianischen Christen den Rücken stärken dürfen. Gleichzeitig gibt es ein riesiges Bedürfnis nach biblisch fundierter, einfach verständlicher und lebensnah vermittelter Theologie – und leicht verständliches, kulturell angepasstes Material. Ein einfaches Beispiel aus dem Gemeindealltag: Die Hauptfigur in einem christlichen Kinderbuch, das in den Gemeinden verteilt wird, liebt Rollbrett fahren, Feuerwehr und Schnee. All das kennen Kinder in Kolumbien aber höchstens aus dem Fernsehen. Ist auch Jesus so weit weg von ihrem Alltag?
Kannst du uns beschreiben, wie das Leben in Kolumbien (konkret in eurem Quartier) aussieht?
Pandemiebedingt sind wir sehr viel umgezogen – und jedes Quartier hatte seine Eigenheiten. Ich beschreibe einfach eines: Man hört ab und zu einen Verkäufer, der mit seiner Schubkarre durch die Strassen zieht und schreiend Gemüse, Früchte oder Fisch anbietet – also sozusagen Hauslieferdienst. ÖV gibt’s praktisch nicht. Die meisten nehmen das Motorrad-Taxi, das ist günstiger (und staubiger) als ein Autotaxi. Zu Fuss muss man auf der Hut sein: Man kann überall und zu jeder Zeit ausgeraubt werden. Trotzdem im Alltag immer dabei: kolumbianische Spontanität und eine Prise schwarzer Humor, der so typisch ist für die Küstenregion.
Ihr habt euch während längerer Zeit in einer lokalen Bibelschule engagiert. Warum ist das wichtig?
In vielen Gemeinden wird gepredigt, dass man als Christ möglichst viel fasten, beten und Gottesdienste besuchen soll. Wer diese christliche Pflicht gut erfülle, könne mit von Gott geschenktem materiellen Wohlstand rechnen. Das ist so meilenweit weg von der erlösenden Freudenbotschaft von Jesus Christus! Durch die Bibelschularbeit können wir gesunde, lebensverändernde biblische Lehre fördern – und Jüngerschaft leben.
Herausfordernd finde ich es, nicht Wissen weiterzugehen, sondern gemeinsam in der Beziehung zu Jesus zu wachsen. Wissensaneignung, auch biblische, kann sogar kontra-produktiv sein: Wenn ich mehr weiss, als der Christ neben mir, werde ich schnell stolz. Wenn wir aber das Evangelium tiefer verstehen und erleben, wie Jesus uns in sein Ebenbild verändert, dann lohnt sich Bibelschularbeit zu hundert Prozent!
Circa 3'000 Personen studieren an dieser Bibelschule. Auf welches Arbeitsumfeld werden sie vorbereitet?
Nicht wenige der Studierenden arbeiten bereits als Pastoren, oft neben einer weiteren Arbeit, um sich finanziell über Wasser zu halten. Für sie sind unsere Kurse also oft doppelt berufsbegleitend! Gäbe es unser Angebot nicht, hätten viele dieser Pastoren gar keine biblisch-theologische Ausbildung – ja nicht einmal Zugang zu einem Jüngerschaftskurs. Allerdings bieten wir nicht eine «klassische Pastorenausbildung» an: Viele unserer Kurse richten sich an alle Christen, die im Glauben wachsen und Gottes Wort tiefer verstehen möchten.
Und was wünscht ihr, dass diese Absolventen bewirken?
Dass sie zu fröhlichen, reifen Christen weiterwachsen, die Jesus und ihre Mitmenschen lieben und das Evangelium freudig weitergeben. Wir wünschen uns, dass sie Gottes Willen für jeden Lebensbereich entdecken und leben. Für viele ist ein Augenöffner zu merken, dass Gottes Wort uns auch eine neue Perspektive auf Ehe, Familie, Wohlstand, Arbeit, Gesellschaft, ja auf jeden Bereich unseres Lebens gibt!
Was kann das EGW von der Gemeinde in Kolumbien lernen?
Spontanität und Freude an Neuem! Wir haben nicht schlecht gestaunt, als eine Gemeinde in wenigen Tagen für über dreissig Kinder drei Mal pro Woche Mittagessen, schulische Betreuung und christliche Kindertreff aufgegleist hat – für ein ganzes Schuljahr. Und dann erst noch in einem heruntergekommenen Quartier am anderen Ende der Stadt, in einem maroden Privathaus. Als sich die Möglichkeit bot, überlegte man nicht lange!
Bericht in der Februar-Ausgabe vom wort-wärch erschienen. | Gespräch geführt durch: Andreas Schmid, Pfarrer EGW Biel | Bilder: zVg