Viele von uns erinnern sich gerne an die Jahreskonferenz 2024 mit ihrer Vielfalt und ihrem Tiefgang. Unter dem Motto «Gemeinschaftswerk mit Ausstrahlung» wurde getanzt, musiziert, aufgeführt, gepredigt und mehr. Im Festgottesdienst am Sonntag erklärte Andi Bachmann-Roth anhand der Freunde, die in Markus 2 den Gelähmten durchs Dach zu Jesus hinunterliessen, dass wir Christen einander brauchen, um den grossen Auftrag, den Gott uns gegeben hat, zu erfüllen. Die Freunde überwanden die Hindernisse (die Lähmung ihres Freundes und den versperrten Zugang durch die vielen Leute) und machten das, was auch wir heute tun sollen: Menschen zu Jesus bringen.
Dazu brauchte es verschiedene Begabungen: Sie mussten die Situation analysieren, kreative Ideen generieren, praktisch Hand anlegen und sorgfältig sein. Zusätzlich war Einheit gefragt, obwohl sie vermutlich unterschiedliche Gaben hatten. So erreichten sie das gemeinsame Ziel.
Diese Begebenheit widerspiegelt das Leben in unseren Gemeinden hervorragend. Als verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Begabungen sind wir berufen, Gottes Auftrag zu leben. Das klappt nicht immer gut: Wenn es gelingt, dürfen wir feiern und Gott dafür danken. Wenn es hapert, müssen wir gut hinschauen und nach Möglichkeiten der Verbesserung suchen.
Momentan hapert es dabei, dass wir nicht mehr genügend Leute für den pastoralen Dienst finden. Dieses Phänomen geht weit über das EGW hinaus und betrifft gegenwärtig viele Kirchen. Die Leitung hat sich im Berichtsjahr mit diesem Thema auseinandergesetzt und von der Mitarbeitendenkonferenz wertvolle Impulse erhalten. In einem wort+wärch wurde zusätzlich zum Gebet für pastoralen Nachwuchs aufgerufen.
Die Gründe für den Mangel an Nachwuchs im pastoralen Bereich sind vielfältig:
1. Demographische Aspekte. In der Schweiz ist die Zahl der Menschen, die jährlich in Pension gehen, deutlich höher als diejenige derer, die ins Berufsleben einsteigen. Das ist auch der Hauptgrund für den momentanen Fach- und Arbeitskräftemangel in fast allen Bereichen der Wirtschaft. Konkret heisst das, dass im Moment auf 3’000 Leute, die pensioniert werden, nur 2’000 Leute ins Berufsleben einsteigen. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, dem wir auch als christliche Gemeinden ausgesetzt sind.
2. Das Prestige ändert sich. Ein Mann, der vor mehr als vierzig Jahren auf St. Chrischona studierte und dann als Pfarrer EGW einstieg, sagte mir kürzlich, dieser Schritt habe für ihn einen sozialen Aufstieg bedeutet. Diese Zeiten der besonderen gesellschaftlichen Anerkennung von Pfarrleuten sind vorbei.
3. Die Ansprüche der Gemeinde ändern sich. Das Gemeindeleben ist vielfältiger und attraktiver, aber auch aufwändiger geworden. Dieser Zusatzaufwand kann oft nicht durch Freiwillige abgedeckt werden. In vielen Fällen muss die Pfarrperson in die Bresche springen, ob sie nun Zeit und die entsprechende Begabung dazu hat oder nicht. Damit kommt der Rest der Aufgaben entweder zu kurz oder die Pfarrperson entsprechend unter Druck.
4. Die Vorstellung jüngerer Generationen ändert sich. Das im letzten Punkt erwähnte Problem, ständig in die Bresche springen zu müssen und allerlei Aufgaben zu übernehmen, entspricht bei den allermeisten Angestellten nicht den Vorstellungen des Pfarrberufs. Menschen jüngerer Generationen wagen es eher, auch nein zu sagen. Wenn also von ihnen Sachen gefordert werden, die weit neben ihrem Gabenprofil liegen oder ihre Belastungsgrenze übersteigen, kommunizieren sie das der Gemeindeleitung und erwarten Verständnis und Entlastung. Das wiederum steht im Widerspruch zu den in Punkt drei geschilderten Erwartungen der Gemeinde.
Diese kleine Analyse muss ohne Zweifel noch ergänzt, erweitert und vertieft werden. Hier ist nicht der Ort, dies zu tun. Vielmehr möchte ich im Blick auf mögliche Lösungsansätze ein wichtiges, spannendes und zugleich herausforderndes Thema erwähnen und kurz umreissen: Die Frage der Berufung.
Wir glauben, dass Gott sein Werk in dieser Welt unter anderem durch Menschen tut. Dabei beruft er unterschiedliche Menschen dazu, unterschiedliche Aufträge zu übernehmen.
Hier ist für die meisten klar: Beim Entscheid, einen pastoralen Dienst zu übernehmen, ist die Berufungsfrage zentral. Allerdings beschränken sich Berufungen natürlich nicht auf diesen Bereich. Deshalb möchte ich im Folgenden neben dem Ruf zur Pfarrerin, respektive zum Pfarrer auch zwei weitere Berufungsfelder kurz ausführen.
1. Die Berufung, Pfarrerin oder Pfarrer zu werden
Im freikirchlichen Bereich wird kaum jemand aus finanziellen Gründen den Pfarrberuf wählen. Und wie erwähnt, verspricht er auch keinen sozialen Aufstieg mehr. Darüber bin ich eigentlich ganz froh, denn diese Motivationen wären äusserst zweifelhaft. Umso wichtiger wird die Berufungsfrage.
«Ich möchte meine Berufung leben», das haben viele junge Leute auf dem Herzen. Dabei sollten wir sie nicht allein lassen. Gerade Pfarrerinnen und Pfarrer in den EGW-Bezirken – das haben wir an der letzten Mitarbeitendenkonferenz deutlich festgestellt – können im Blick auf eine pastorale Berufung eine zentrale Rolle einnehmen. Sie kennen den Beruf. Sie kennen seine Vorzüge und Herausforderungen. Sie wissen, was es bedeutet, ihn im Alltag zu leben. Gleichzeitig kennen sie viele Leute und können sie begleiten. Von einer inspirierenden Pfarrperson angesprochen und auf eine mögliche Berufung hingewiesen zu werden, kann in einem jungen Menschen viel bewirken. Der Entscheid liegt bei der betroffenen Person, aber der Ruf kommt von Gott und die Begleitung geschieht durch Menschen, die den Jungen mit Weisheit und Liebe zur Seite stehen.
2. Die persönliche Berufung jeder Christin und jedes Christen
Aber nicht nur Pfarrpersonen sollen Berufene sein, sondern alle. Es geht mir hier nicht darum, eine Anleitung zu geben, wie man seine Berufung finden kann. Das ist mit einem Text nicht möglich. Vielmehr möchte ich uns alle ermutigen, die Frage unserer persönlichen Berufung in den verschiedensten Lebensbereichen zu stellen. Ich glaube nämlich, dass wir vieles nicht aufgrund unserer Berufung, sondern aus anderen Motiven tun. Ein Beispiel soll hier genügen. Es ist ein provokatives, aber aus meiner Sicht zentrales. Und es hat mit unserem Thema zu tun: Die Frage nach der Gemeinde, zu der ich gehöre.
Als Pfarrer stelle ich fest, dass die Hauptkriterien für die Gemeindewahl bei vielen Christinnen und Christen die eigenen Bedürfnisse sind: Gefällt mir die Musik und der Lobpreis? Wie gut sind die Predigten? Haben meine Kinder tolle Angebote und werden sie im Glauben gefördert? Treffe ich im Gottesdienst Leute, mit denen ich gerne zusammen bin? All diese Kriterien haben leider wenig bis gar nichts mit meiner Berufung zu tun. Wie wäre es, wenn wir fragen würden: Wo möchte Gott mich haben? Wo ist aus seiner Sicht mein Platz, an dem ich meine Berufung leben kann und soll? Oder anders: Zu welcher Gemeinde beruft er mich? Könnte es sein, dass wir hier mehr auf unsere vermeintlichen Bedürfnisse als auf Gottes Ruf hören? Ich glaube, ja! Und das hat leider negative Konsequenzen auf den dritten Berufungsbereich.
3. Die Berufung der Gemeinde
Wenn die Menschen die Gemeinde nach deren Attraktivität wählen, ist die Gemeinde versucht, den Fokus auf genau diese Attraktivität zu legen. Wenn viele Menschen ihre Gottesdienste besuchen und an ihren Angeboten teilnehmen, denkt die Gemeinde, sie sei besonders gesegnet und jetzt wachse das Reich Gottes. Als ob Gottes Reich vor allem darin bestehen würde, dass viele so feiern, wie wir gerne feiern! Wenn ich das so konkret schreibe, tönt das vielleicht überzeichnet und trivial. Ich vermute aber, dass dies leider sehr oft die Realität ist – im EGW und in allen anderen Kirchen hier bei uns im Westen.
Und für dieses Denken bezahlen wir einen hohen Preis. Die Attraktivitätssteigerung unserer Angebote ist meistens mit höherem Aufwand verbunden. Wieviel freiwillige und bezahlte Arbeit investieren wir, damit wir so feiern können, wie wir möchten? Wie viele Aufrufe machen wir, damit wir genügend Leute finden, die unseren «Betrieb» am Laufen halten? Auch hier sollten wir die Berufungsfrage stellen. Und zwar die Berufung an uns als Ortsgemeinde. Möchte Gott wirklich, dass wir mit den anderen Kirchen in unserem Dorf oder unserer Stadt in eine Art Wettstreit der Attraktivität unserer Angebote geraten? Oder möchte er nicht vielmehr, dass wir mehr alte Leute besuchen? Uns um die Asylsuchenden des nahe gelegenen Asylzentrums kümmern? Menschen ermutigen, sich in der Politik und im Verein zu engagieren und bei uns einfach auftanken zu können?
Nicht jede Gemeinde hat dieselbe Berufung. Wie wäre es, wenn wir unsere suchen würden? Und dann sogar wagen würden, sie zu leben? Vielleicht würden unsere Gemeinden dadurch neue Formen annehmen. Und vielleicht würde dieses Gemeindeleben den Druck junger Menschen, die sich überlegen, Pastorin oder Pastor zu werden, mindern. Sie müssten dann nicht verantwortlich sein für die Attraktivität der Angebote. Nein, sie könnten der Gemeinde helfen, ihre Berufung zu leben. Das tun zu dürfen, ist ja wohl die grösste Erfüllung, die sich Pfarrerinnen und Pfarrer für ihren Beruf vorstellen können.
Artikel ist im EGW-Jahresbericht 2024 erschienen. | Text: Daniel Ritter, Leitung EGW | Bilder: pixabay