Plötzlich unterwegs mit Geflüchteten
Nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine haben wir als Familie eine Ukrainerin im Gästezimmer aufgenommen. In der Folge verstanden wir es als EGW Ostermundigen als unsere Aufgabe, einen Ort der Geborgenheit und Hoffnung für Geflüchtete zu schaffen. Trotz begrenzten Ressourcen – sprachlich, finanziell und personell – entstand eine Gruppe, die sich jeden Sonntag in einer Grösse von mindestens 5 bis maximal 35 Personen getroffen hat.
Manchmal erlebte ich unerwartet eine «Liveschaltung» direkt ins Kriegsgebiet. Menschen grüssten ihre Liebsten per Telefon und rückten dabei auch unser Treffen ins Bild. Solche Begebenheiten, viele einschneidende Erlebnisberichte und die Tränen der Anwesenden haben mich geprägt. Doch nicht nur das Grausame des Krieges bewegt mich. Gott wirkt auf wunderbare Weise – sowohl in der Ukraine als auch hier. Menschen haben sich bekehrt, bei etlichen ist das Herz und auch der Gesichtsausdruck froher und hoffnungsvoller geworden.
(Temporäre) Witwen und Waisen
Ein Gedanke, welcher eigentlich ein «Nebenschauplatz» betrifft, beschäftigt mich seit Beginn des Krieges bis heute: Die zeitliche, räumliche, vorübergehende oder definitive Trennung von Ehen, Familien und Generationen aufgrund der Flucht. Ein Teil von Familien konnte, durfte oder musste fliehen, während andere – oft die Männer und Väter – im Land bleiben mussten.
Ich ahne und sehe, dass viele Beziehungen durch die Distanz und Not entfremdet und zerrissen werden. Wer von uns kann wirklich nachvollziehen, was zwei bis drei Jahre Trennung von Ehepartnern oder von Vätern und Kindern bewirken? Und wie lange wird es wohl noch gehen?
Unter den Geflüchteten – ob arm oder wohlhabend – gibt es viele, die zumindest temporär Witwen und Waisen sind. Und es schmerzt, daran zu denken, dass viele von ihnen nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft Witwen und Waisen werden könnten. Das wird sekundäre Folgen für die jetzige und kommende Generation haben.
Gottes Anliegen für Witwen, Waisen und Fremde teilen
Oft können wir die Not nicht beseitigen. Doch ich verstehe es als meine Aufgabe – als Nachfolger Jesu und als Teil einer christlichen Gemeinde – diesen «Alleinstehenden» zu begegnen und ihnen so gut es geht zu helfen. Vielleicht ist es irdisches Brot, wie einst bei Ruth, die auf Boas Feldern Ähren lesen durfte. Vielleicht genügt es, ein «Gegenüber» zu sein, damit jemand seine Gedanken und Ängste teilen kann. Vielleicht geht es um praktische Hilfe beim Aufbau eines Schranks oder um ein segnendes Gebet, besonders für die Kriegskinder hier.
In biblischen Zeiten standen Witwen, Waisen und Fremde immer unter Gottes besonderer Obhut, und ich glaube, dass, wenn wir unser Herz und unsere Aufmerksamkeit auf diese Gruppen lenken, etwas Göttliches geschieht und Gottes Gegenwart durch uns erfahrbar wird.
Damit Menschen neue Hoffnung finden
Unsere Hoffnung ist, dass nicht nur irdische Hilfe spürbar wird, sondern dass Menschen neue Hoffnung schöpfen – ihre Hoffnung auf denjenigen setzen, der unsere Hoffnung in allem Leid ist: Jesus. Das gilt nicht nur im Umgang mit Fremden, sondern auch mit den Witwen und Waisen in unseren eigenen Gemeinden. Sind unsere Gemeinden Orte, an denen Witwen, Waisen, Alleinstehende und Notleidende alltägliche Hilfe und neue Hoffnung in Christus finden? Dafür bete ich, danach möchte ich mich ausstrecken und versuchen, dem Menschen, der gerade vor mir steht, das zu geben, was er braucht. Vielleicht bedeutet es auch, «geistlich in den Riss zu treten» und als Mann oder Vater und als Pastor für diese Alleinstehenden zu beten, da zu sein und sie zu segnen.
Kürzlich hat sich eine neu gegründete ukrainische Gemeinde, das Agape Center Bern, bei uns im EGW Ostermundigen eingemietet. Dabei wurde unser Ukrainetreffpunkt in diese Gemeinde integriert. Was mit dem Ukraine-Treffpunkt als Projekt begann, nimmt nun eine neue Form an. Für mich ein Geschenk und ein Wunder. Diese ukrainische Gemeinde betet für ihre Kinder, wie auch wir es in unseren Gemeinden oft tun. Als Pfarrer im EGW tue ich dies bewusst in unseren Gottesdiensten. Als ich die ukrainischen Kinder in diesen Wochen vor mir stehen sah, kamen mir die Tränen. Es sind alles Kriegskinder – gleichzeitig aber auch Hoffnungskinder.
Ich stelle mir vor …
Was gibt es Grösseres, als für diese oft temporären Halbweisen oder Waisen und ihre Eltern – hier oder in der Ukraine – zu beten? Es mag klein erscheinen, und doch ist es das Grösste. Ich stelle mir vor, wie diese Kinder einmal erzählen werden:
«Während des Krieges war ich als Kind eine Weile in einem Land, das für Schokolade und Banken bekannt ist. Meine Mutter, mein Vater haben dort mit Glaubensgeschwistern Gemeinschaft gehabt und sind zum Glauben gekommen. Diese Menschen haben unser Leid geteilt, uns in unserer Not geholfen und für uns gebetet. Das wurde zu unserem Schatz und hat unser Leben nachhaltig mit Hoffnung erfüllt, weil etwas von Jesus erfahrbar wurde.»
Bericht in der Dezember-Ausgabe vom wort+wärch erschienen. | Bericht: Daniel Heer, Pfarrer EGW in Ostermundigen | Bilder: zur Verfügung gestellt