«Als Bewegung zwischen Landes- und Freikirchen sind wir Brückenbauer zu einzelnen Menschen, zwischen Generationen, zwischen Gemeinden und Kirchen und in die Gesellschaft hinein. Mit Leidenschaft pflegen wir die Beziehung zu Gott, leben Annahme und Vergebung und fördern das Gespräch und Begegnungen zwischen Menschen.»
Sind wir tatsächlich Brückenbauer, wie es im Leitbild und vor drei Jahren schon im Leitthema des EGW steht? Jedenfalls stehen obige Sätze unter «Identität» im Leitbild. Und das lässt uns noch pointierter fragen: Bauen wir «von Natur aus» Brücken? Ist es in den Genen eines
EGWlers oder einer EGWlerin, Verbindungen zu schaffen, zu vermitteln, Frieden zu stiften? Ein hoher Anspruch, meine ich.
Aber wir müssen diesem Anspruch nicht aus unserer bald zweihundertjährigen Geschichte des EGW gerecht werden. Wir stehen in viel älterer Tradition. War nicht Jesus Christus der oberste Brückenbauer, der wahre «pontifex maximus», der Vermittler zwischen Gott und Menschen? Hat nicht Gottes Sohn eine Brücke vom heiligen Gott zu uns erlösungsbedürftigen Menschen gebaut? Paulus schreibt an Timotheus: «Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle.» (1. Timotheus 2,4-6). Und kommt nicht seinen Jüngern die Aufgabe zu, im Sinne ihres Herrn diesen Auftrag des Vermittelns weiterzuführen? Ist es nicht unsere Aufgabe als «Priester seines Königreichs», für Menschen vor Gott und für Gott vor den Menschen zu stehen? (vgl. 1. Petrus 2,9)?
Doch wie sieht dieses Brückenbauen konkret heute aus?
Wo immer es möglich ist – und das schliesst auch mit ein, dass es auch nicht gelingen kann – suchen wir das Verbindende, legen uns nicht auf Positionen fest, sondern fragen tiefer nach den Beweggründen. Dies bedingt, dass wir Interesse zeigen und zuhören, was das Gegenüber braucht, auch wenn dies offensichtlich scheint. Mit diesem Weg gelingt das Brückenbauen auch über Generationen hinweg.
Selbst in theologischen Fragen ist das Brückenbauen möglich, wenn wir bereit sind, verstehen zu wollen, warum andere Christen in einer bestimmten Frage so denken und nicht wie ich. In meiner beruflichen Tätigkeit habe ich das Privileg und die Gelegenheit, immer wieder mit Christen anderer Denominationen zusammen zu sein. Auch wenn ich in einer Frage anders denke, so will ich die Argumente und Gründe hören, die mein Gegenüber zu einem andern Schluss kommen lassen. Ich muss nicht seiner Argumentation folgen, aber ich beginne zu ver-
stehen und entdecke vielleicht Gründe, die ich vorher nicht berücksichtigt habe. Auf diese Weise können Positionen aufgeweicht werden und Brücken gebaut werden. Das gegenseitige Vertrauen wächst.
Was beschäftigt meine Nachbarn, mein Dorf, mein Quartier? Sehe ich ihr Potenzial? Und auch ihre Fragen, die sie im Leben immer wieder herausfordern? Wahrscheinlich waren es mitunter diese Fragen, die die Pioniere im EGW damals und heute motivieren, Brücken in die Gesellschaft zu schlagen, Nöte und Ungerechtigkeiten nicht einfach als gegeben hinzunehmen, sondern etwas dagegen zu unternehmen. Es war schon immer die DNA des EGW, sich nicht abzuschotten, sondern Brücken zu schlagen, selbst wenn der Erfolg eines Unterfangens ungewiss war.
Brücken schlagen, das klingt nach etwas Grossem. Wenn wir aber bedenken, wie früher einfache Brücken «geschlagen» wurden, wird uns bewusst, dass ein Versuch jedem möglich ist: Über einen unüberwindbaren Graben oder reissenden Fluss wurde ein Anker mit einem dünnen Faden geworfen (= geschlagen). An diesen dünnen Faden wurde dann ein dickere Schnur geknüpft, dann ein Seil, das über den Graben gezogen und verankert wurde und an dem weitere Bauelemente über den Graben transportiert werden konnten. Doch angefangen hat es mit einem Faden, mit einem vorsichtigen Versuch, ob der Faden aufgenommen wird.
Auf diese Weise treten wir «in den Riss», der durch Generationen, Gemeinden, manchmal sogar Familien geht. Und der auch zwischen Gott und den Menschen besteht. Was könnte entstehen, wenn wir einen dünnen Faden ins Leben unserer Freunde werfen und mit ihnen Gottes Spuren in ihrem Leben zu entdecken versuchen?
Man könnte es in einem Satz sagen, der ein mittlerweile verstorbener Pfarrer EGW mir als junger Prediger mitgegeben hat: «Es braucht im Leben zwei Bekehrungen und in der richtigen Reihenfolge: zuerst eine zu Christus hin und dann eine zur Welt.» Recht hatte er. Dann sind wir Brückenbauer.
Thomas Gerber | Ressortleiter Organisation & Kontakte und Pfarrer EGW